C. Borck u.a. (Hrsg.): Zwischen Beharrung, Kritik und Reform

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Title
Zwischen Beharrung, Kritik und Reform. Psychiatrische Anstalten und Heime für Menschen mit Behinderung in der deutschen Nachkriegsgeschichte


Editor(s)
Borck, Cornelius, Lingelbach, Gabriele
Series
Disability History
Published
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Extent
429 S.
Price
€ 48,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jens Gründler, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Die Erforschung der Geschichte der Psychiatrie und der Heime für Menschen mit Behinderung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hat in den letzten Jahren einige neue Impulse erhalten.1 Seit den 1990er-Jahren hat sich die Perspektive der Geschichtswissenschaft auf das Thema deutlich erweitert. Neben ersten Vermessungen der jüngeren Zeitgeschichte ist in vielen Arbeiten die Agency der Akteur:innen – unter anderem Mediziner:innen, Patient:innen, Familien, Justiz und Polizei – ins Zentrum der Analyse gerückt. Parallel ist seit der Jahrtausendwende die Untersuchung und Aufarbeitung der gewaltförmigen Verhältnisse in den Einrichtungen zu einem wichtigen Impulsgeber der aktuellen Studien geworden. Auch in der rezenten Forschung wurde unter Rückgriff auf Erving Goffmans Konzept der „totalen Institution“ das „Eigenleben“ der verschiedenen Anstalten erklärt. Vertiefte Erkenntnisse ergaben sich dabei aber aus den zahlreichen Oral-History-Interviews, die mit Insassen geführt wurden. Cornelius Borck und Gabriele Lingelbach, die Herausgeber:innen des hier zu besprechenden Sammelbandes „Zwischen Beharrung, Kritik und Reform“, publizieren seit Jahren in beiden Feldern und waren etwa an der für Schleswig-Holstein maßgeblichen Aufarbeitungsstudie zu Kindern und Jugendlichen in Psychiatrien und Einrichtungen für Behinderte beteiligt.2

Der neue Sammelband bündelt diese Forschungsstränge und öffnet ein weites Panorama aktueller wissenschaftlicher Trends. Er ist das Ergebnis einer Fachtagung, die im November 2021 in Lübeck stattfand – unter dem Titel „Stagnation und Aufbruch. Zur Zeitgeschichte der Versorgung psychisch erkrankter und geistig behinderter Menschen in Deutschland nach 1945“.3

In der Einleitung zeichnen Borck und Lingelbach zum einen die Traditionslinien der medizinhistorischen Forschung nach und weisen zum anderen auf ein Manko dieser Traditionen hin, das erst in den letzten drei Jahrzehnten allmählich behoben wurde: die lange fehlende Erkenntnis, dass die Geschichte von psychiatrischen Anstalten und Einrichtungen der Behindertenhilfe immer auch Gesellschaftsgeschichte ist, eine Geschichte „marginalisierter Menschen und Menschengruppen“ (S. 10). Die Idee des Bandes ist folglich, die Disability History und andere Forschungsrichtungen mit der traditionelleren, medizinhistorischen Psychiatriegeschichte interdisziplinär zu verbinden, um „damit zugleich auch das vorschnell entstandene dominierende Bild einer weitgehend monolithischen Verwahrpsychiatrie differenzieren und die bisher in der Forschung etablierte Periodisierung der Nachkriegspsychiatriegeschichte zumindest hinterfragen“ zu können (S. 16).

Der Band gliedert sich in vier Abschnitte mit jeweils drei bis vier Aufsätzen. Der erste Teil „Psychiatrie im zeitgenössischen Fachverständnis“ ist den Psychiatern und Anstaltsleitern sowie ihrem Selbstverständnis nach 1945 gewidmet. Franz-Werner Kersting stellt mit Hans Merguet den Leiter (1949–1957) der psychiatrischen Anstalt im westfälischen Lengerich vor, der in der teils katastrophalen Versorgungslage der frühen Nachkriegszeit eine „Reform vor der Reform“ der späten 1960er-Jahre anstieß. An dem lokalen Beispiel kann Kersting zeigen, dass die Nachkriegspsychiatrie sich keinesfalls grundsätzlich Reformen verweigerte und nicht erst die Psychiatrie-Enquête der 1970er-Jahre alles in Bewegung brachte. Stefanie Coché liefert in ihrem Kapitel zum „Psychiater als ‚Kenner‘“ beispielhaft Einsichten in das Selbstverständnis von Psychiatern. Im Beitrag zu den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel thematisiert Uwe Kaminsky die langen therapeutischen und personellen Kontinuitäten in Psychiatrie und in Einrichtungen für Behinderte, die weit in die Bundesrepublik reichten.

Der zweite Teil „Reformen und Kontinuitäten“ umfasst Beiträge, die spezifische Räume und institutionelle Settings in den Fokus rücken. Frank Sparing untersucht Konflikte und Aushandlungsprozesse um Anstaltsunterbringungen in Psychiatrien im Regierungsbezirk Düsseldorf nach 1949. Maike Rotzoll spürt der „Medikalisierung“ der Epilepsie in den diakonischen Anstalten in Bethel ab 1945 nach. Christine Hartig und Nils Löffelbein beschäftigen sich mit Kindern und Jugendlichen in psychiatrischen und stationären Großeinrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen. Hartig nähert sich den „Lebenschancen“ der Betroffenen über das komplexe System der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) Wunstorf sowie deren Zusammenspiel mit Jugendämtern und anderen Erziehungseinrichtungen. Löffelbein wählt einen anderen Zugriff, indem er die Versorgungslandschaft für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen in Schleswig-Holstein zwischen 1975 und 1990 im Ganzen betrachtet. Dieser Beitrag verdeutlicht, dass die Psychiatriereform in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich zwar einen time lag aufwies. Löffelbein belegt jedoch ebenfalls eindrucksvoll, dass es auch unter den Bundesländern Nachzügler wie eben Schleswig-Holstein gab, die an Reformen weniger interessiert waren beziehungsweise geringere Mittel für diese bereitstellten.

Im dritten Teil „Stimmen von Bewohnerinnen und Bewohnern“ unternehmen drei Beiträge Versuche einer Medical History from below4 für die Psychiatrie der Bundesrepublik. Burkhart Brückner entfaltet ein Panorama der Selbstorganisationen von Psychiatriebetroffenen, die sich gegen die Zumutungen in Anstalten zur Wehr setzten. Monika Ankele nimmt die Studie „Ein Bett ist keine Wohnung“ (im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe) aus dem Jahr 1982 zum Ausgangspunkt, um die Wechselbeziehungen von Dingen und Räumen in psychiatrischen Anstalten sowie deren besondere Bedeutung für Langzeitpatient:innen zu taxieren. Christof Beyer erforscht anhand der Patientenzeitung „Der Ausblick“, die zwischen 1980 und 1982 am Landeskrankenhaus Schleswig erschien, die potentielle Wirkmächtigkeit von Patient:innen in einem Kräftefeld, das zwischen ersten Versuchen des Aufbruchs und starken Beharrungskräften oszillierte.

Der vierte und letzte Teil „Konjunkturen der Kritik“ beginnt mit Viola Balzʼ Betrachtung der Auseinandersetzungen um Psychopharmaka im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Zwangsbehandlung zwischen 1950 und 2020. Jonathan Holst problematisiert die „Skandalisierung und Aufarbeitung von Arzneimittelversuchen“ seit Mitte der 2010er-Jahre. Den Topos einer unterdrückten oder verdrängten Geschichte der Arzneimittelerprobungen hinterfragt er anhand von zeitgenössischen Thematisierungen durch Ärzte und Psychiatrieerfahrene. Raphael Rössel betrachtet die Debatten um die Versorgungssituation in Psychiatrien und Heimen im Ostdeutschland der Transformationszeit nach 1989. Ein zentrales Ergebnis des Beitrags ist, dass erst in der Vereinigungsgesellschaft „signifikante Verflechtungen“ auftraten (S. 422), in denen der Reformstau und die Rückständigkeit ostdeutscher Einrichtungen auf das Narrativ der vorbildlichen sozialstaatlichen Absicherung behinderter Menschen im Westen traf – erst als die Versorgungssituation sich in den Jahren nach der „Wende“ nicht besserte, lösten sich vermeintliche Gewissheiten auf.

Der Band ist sehr gelungen, bietet aber auch Ansatzpunkte für Kritik. Zum einen hätte der Rezensent sich gewünscht, dass die mittlerweile breite internationale Literatur zur Geschichte der Psychiatrie und Behindertenfürsorge sowie deren Selbstorganisation nach 1945 wenigstens als Referenz in die Beiträge eingeflossen wäre.5 Auch wenn das Konzept des Bandes in seiner Fokussierung auf deutsche Verhältnisse schlüssig ist, zeigt der Beitrag von Brückner exemplarisch, wie produktiv der Blick über die Grenze hinaus sein kann. Zum anderen hätte eine stärkere Verortung der deutschen Entwicklungen in der internationalen Landschaft den Band noch wertvoller gemacht. Das gilt besonders, weil Borck/Lingelbach in ihrer Einleitung auf den reformerischen time lag gerade gegenüber den anglo-amerikanischen Innovationen hinweisen. Es ist offensichtlich, dass CDU-geführte Bundesländer wie Schleswig-Holstein noch in den 1980er-Jahren zum Beispiel die Forderungen zur Ambulantisierung der Psychiatrie ignorierten, während andere bereits weiter waren. Aber auch dies ist eher ein Plädoyer für eine stärker regionalgeschichtliche Herangehensweise an die Veränderungen in Psychiatrie und Einrichtungen für behinderte Menschen – verbunden mit einer international vergleichenden Perspektive, denn auch in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich gab es deutliche regionale Unterschiede bei der Geschwindigkeit von Reformen.6

Trotz dieser kritischen Bemerkungen ist der Sammelband ein Referenzwerk, das die Ergebnisse zahlreicher Einzelstudien konzise zusammenfasst, neue Erkenntnisse für die Geschichte von Psychiatrie und Behindertenfürsorge liefert und künftige Forschungsfelder identifiziert. Den in der Einleitung formulierten Anspruch, Medizingeschichte, Disability History und Zeitgeschichte interdisziplinär stärker zu verbinden und den engeren Rahmen der Geschichte von Psychiatrie und Einrichtungen für behinderte Menschen zu verlassen, lösen viele Aufsätze ein – insbesondere diejenigen von Brückner und Rössel.

Anmerkungen:
1 Vgl. u. a. Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010; Ekkehardt Kumbier / Kathleen Haack (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR III. Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2023; Wilfried Rudloff / Franz-Werner Kersting / Marc von Miquel / Malte Thießen (Hrsg.), Ende der Anstalten? Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren, Paderborn 2022.
2 Christof Beyer / Cornelius Borck / Nils Kühne / Gabriele Lingelbach / Nils Löffelbein, Wissenschaftliche Untersuchung zu Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990. Abschlussbericht im Auftrag des Schleswig-Holsteinischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie, Lübeck 2021, https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/L/leid-unrecht/Downloads/Abschlussbericht_zu_Formen_von_Leid_Unrecht_1949_bis_1990.pdf?__blob=publicationFile&v=1;v=1 (23.01.2024).
3 Siehe den Bericht von Pia Schmüser, in: H-Soz-Kult, 02.02.2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127848 (23.01.2024).
4 Vgl. Roy Porter, The Patientʼs View. Doing Medical History from below, in: Theory and Society 14 (1985), S. 175–198, https://www.jstor.org/stable/657089 (23.01.2024).
5 Vgl. u. a. Duane F. Stroman, The Disability Rights Movement. From Deinstitutionalization to Self-determination, Lanham 2003; Mark Gallagher, From Associations to Action. Mental Health and the Patient Politics of Subsidiarity in Scotland, in: Palgrave Communications 4, 34 (2018), https://doi.org/10.1057/s41599-018-0085-9 (23.01.2024); Alex Mold, Making the Patient-Consumer. Patient Organisations and Health Consumerism in Britain, Manchester 2015; Peter Barham, Closing the Asylum. The Mental Patient in Modern Society, London 1992; John Welshman, Rhetoric and Reality. Community Care in England and Wales, 1948–74, in: Peter Bartlett / David Wright (Hrsg.), Outside the Walls of the Asylum. The History of Care in the Community, 1750–2000, London 1999, S. 204–226; Madeleine Akrich / João Nunes / Florence Paterson / Vololona Rabeharisoa (Hrsg.), The Dynamics of Patient Organizations in Europe, Paris 2008.
6 Vgl. u. a. Christine Dean / The Greater Glasgow Community and Mental Health Services NHS Trust (Hrsg.), A Slow Train Coming. Bringing the Mental Health Revolution to Scotland, Glasgow 1994; Phil Brown, Review Article. Psychiatric Reform and Transformation, in: International Journal of Health Services 14 (1984), S. 329–333; David A. Rochefort, Mental Health Reform and Inclusion of the Mentally Ill. Dilemmas of U.S. Policy-making, in: International Journal of Law and Psychiatry 19 (1996), S. 223–237; Lucas Richert / Matthew DeCloedt, American Psychiatry in Transition. Reform or Revolution?, in: Despo Kritsotaki / Vicky Long / Matthew Smith (Hrsg.), Preventing Mental Illness. Past, Present and Future, Cham 2019, S. 187–207; Paola Bollini / Michael Reich / Giovanni Muscettola, Revision of the Italian Psychiatric Reform. North/South Differences and Future Strategies, in: Social Science & Medicine 27 (1988), S. 1327–1335.

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